Kleine Wellen an der Oberfläche des Seins

ein Interview mit Eckhart Tolle



ANDREW COHEN: Eckhart, wie sieht Ihr Leben aus? Ich habe gehört, dass Sie etwas von einem Einsiedler haben und viel Zeit in der Zurückgezogenheit verbringen. Ist das wahr?

ECKHART TOLLE: In der Vergangenheit ist das wahr gewesen, bevor mein Buch JETZT! Die Kraft der Gegenwart herauskam. Ich war viele Jahre lang ein Einsiedler. Aber seit mein Buch veröffentlicht worden ist, hat sich mein Leben dramatisch verändert. Heute bin ich viel mit Lehren und Reisen beschäftigt. Leute, die mich von früher kennen, sagen: „Das ist erstaunlich. Du bist doch ein Eremit gewesen und jetzt bist du draußen in der Welt." Dennoch spüre ich, dass sich im Inneren nichts verändert hat. Ich bin immer noch derselbe wie früher. Da ist immer noch das ständige Empfinden von Frieden und ich habe mich der Tatsache hingegeben, dass rein äußerlich eine totale Veränderung stattgefunden hat. Also ist es eigentlich nicht mehr wahr, dass ich ein Eremit bin. Jetzt bin ich das Gegenteil von einem Eremiten. Das könnte sehr wohl ein Zyklus sein. Es könnte sehr wohl sein, dass eines Tages diese Sache zu einem Ende kommt und ich wiederum zum Einsiedler werde. Aber im Moment habe ich mich der Tatsache hingegeben, dass ich fast ständig interagiere. Manchmal nehme ich mir Zeit, um alleine zu sein. Zwischen den Lehrveranstaltungen ist das auch nötig.

AC: Warum müssen Sie sich Zeit nehmen, um alleine zu sein und was passiert, wenn Sie sich dafür Zeit nehmen?

ET: Wenn ich mit Leuten zusammen bin, dann bin ich ein spiritueller Lehrer. Das ist die Funktion, aber es ist nicht meine Identität. In dem Augenblick, wo ich alleine bin, ist es meine tiefste Freude, Niemand zu sein und die Funktion des Lehrers aufzugeben. Es ist nur zeitweilig meine Funktion. Nehmen wir einmal an, dass ich mich mit einer Gruppe von Leuten treffe. In dem Moment, wo sie mich alleine lassen, bin ich kein spiritueller Lehrer mehr. Es gibt kein Empfinden einer äußerlichen Identität mehr. Ich gehe einfach tiefer in die Stille. Diesen Ort der Stille liebe ich am meisten. Aber die Stille ist nicht verloren, wenn ich spreche oder lehre, weil die Worte aus der Stille entstehen. Aber wenn die Leute mich alleine lassen, dann ist da nur noch die Stille übrig. Und das liebe ich sehr.

AC: Würden Sie sagen, Sie bevorzu -gen sie?

ET: Nicht bevorzugen. Mein Leben befindet sich heute in einem Gleichgewicht, das vorher vielleicht nicht da war. Man könnte fast sagen, dass ein Gleichgewicht verloren ging, als diese innere Transformation seinerzeit geschah. Es war eine so erfüllende Glückseligkeit, einfach nur zu sein, dass ich jedes Interesse daran verlor, etwas zu tunoder zu interagieren. Für einige Jahre war ich vom Sein überwältigt. Das Handeln hatte ich fast vollständig aufgegeben – ich tat nur genug, um mich selbst am Leben zu erhalten, und sogar das war eigentlich ein Wunder. Das Interesse an der Zukunft hatte ich völlig verloren. Und dann stellte sich nach und nach wieder ein Gleichgewicht her. Es hat sich eigentlich erst vollständig wieder hergestellt, als ich die Arbeit an dem Buch begann. Ich glaube, dass es jetzt ein Gleichgewicht zwischen Alleinsein und dem Zusammensein mit Leuten in meinem Leben gibt, zwischen Sein und Tun. Im Gegensatz dazu hatte ich vorher das Tun aufgegeben und es gab nur das Sein. Glückselig, zutiefst wunderschön – aber von einem äußerlichen Blickwinkel betrachtet hatten viele Leute das Gefühl, dass ich aus dem Gleichgewicht geraten oder verrückt geworden war. Ein paar Leute dachten, es wäre verrückt von mir, die weltlichen Dinge, die ich „erreicht" hatte, loszulassen. Sie verstanden einfach nicht, dass ich davon nichts mehr brauchte oder wollte.
Heute besteht das Gleichgewicht zwischen dem Alleinsein und dem Zusammensein mit Leuten. Und das ist gut so. Ich achte sehr darauf, dass das Gleichgewicht nicht verloren geht. Heute ist da ein Sog, mehr zu tun. Die Leute wollen, dass ich hier spreche und dort lehre – es gibt ständig Bedürfnisse. Ich weiß, dass ich sehr achtsam sein muss, damit das Gleichgewicht nicht verloren geht und ich mich nicht im Tun verirre. Eigentlich glaube ich nicht, dass das je geschehen könnte, aber man braucht ein gewisses Maß an Wachsamkeit.

AC: Was würde es bedeuten, sich im Tun zu verirren?

ET: Theoretisch könnte es bedeuten, dass ich ständig reise, lehre und mit Leuten zu tun habe. Wenn das passieren würde, wäre vielleicht an einem gewissen Punkt dieser Fluss, die Stille, nicht mehr da. Ich weiß es nicht. Vielleicht wäre sie auch immer da. Oder vielleicht würde auch körperliche Erschöpfung einsetzen. Jedenfalls spüre ich heute, dass ich in regelmäßigen Abständen zur reinen Stille zurückkehren muss. Und wenn dann das Lehren geschieht, erlaube ich einfach, dass es aus der Stille entsteht. Das Lehren und die Stille sind also eng miteinander verbunden. Die Lehre entsteht aus der Stille. Aber wenn ich alleine bin, gibt es nur Stille, und da bin ich am liebsten.

AC: Verbringen Sie viel Zeit damit, auch äusserlich still zu sein, wenn Sie alleine sind?

ET: Ja, manchmal sitze ich zwei Stunden lang in einem Zimmer, beinahe ohne irgendeinen Gedanken. Einfach nur vollständige Stille. Manch-mal, wenn ich spazieren gehe, herrscht auch vollständige Stille, da sind keine verstandesmäßigen Etiketten für die Sinneswahrnehmungen. Da ist einfach nur eine gewisse Ehrfurcht oder Staunen oder Offenheit – und das ist schön.

AC: In Ihrem Buch JETZT! Die Kraft der Gegenwartstellen Sie fest, dass: „… der Zweck der Welt letzten Endes nicht innerhalb der Welt liegt, sondern in ihrer Transzendenz." Würden Sie bitte erläutern, was Sie damit meinen?

ET: Die Welt zu transzendieren bedeutet nicht, sich von der Welt zu-rückzuziehen, nicht mehr zu handeln oder nichts mehr mit Leuten zu tun zu haben. Transzendenz der Welt bedeutet, ohne jede Selbstsucht zu handeln oder zu interagieren. Mit anderen Worten: Es bedeutet zu handeln, ohne unser Selbstgefühl durch unsere Handlungen oder Kontakte mit Menschen verbessern zu wollen. Letztendlich bedeutet es, dass man die Zukunft nicht mehr für die eigene Erfüllung oder für das Selbst- bzw. Daseinsgefühl braucht. Man sucht nicht mehr, indem man handelt, sucht nicht mehr nach einem verbesserten, erfüllteren oder größeren Selbstgefühl in dieser Welt. Wenn es diese Suche nicht mehr gibt, dann kann man in der Welt sein, ohne von ihr zu sein. Man sucht da draußen nichts mehr, mit dem man sich identifizieren könnte.

AC: Meinen Sie damit, dass man die egoistische, materielle Beziehung zur Welt aufgegeben hat?

ET: Ja. Es bedeutet, dass man nicht mehr danach sucht, ein Selbstgefühl zu bekommen, ein vertieftes oder verbessertes Selbstgefühl. Im normalen Bewusstseinszustand suchen die Leute mit ihren Aktivitäten nämlich danach, auf eine vollständigere Weise sie selbst zu sein. Der Bankräuber sucht auf gewisse Weise danach. Die Person, die nach Erleuchtung strebt, sucht danach, weil sie einen Zustand der Vollkommenheit erreichen möch-te, einen Zustand der Fülle irgendwo in der Zukunft. Man versucht durch seine Aktivitäten etwas zu erhalten. Man sucht Glück, aber letztendlich sucht man sich selbst oder, wenn Sie so wollen, Gott. Es ist alles das Gleiche. Man sucht sich selbst und zwar dort, wo man es nie im normalen, unerleuchteten Bewusstseinszustand finden kann. Der unerleuchtete Be wus stseinszustand ist nämlich immer im Suchmodus. Das bedeutet also: Man ist von der Welt – in der Welt und von der Welt.

AC: Sie meinen also, dass man sich an der Zukunft orientiert?

ET: Ja. Welt und Zeit sind ihrem Wesen nach miteinander verbunden. Wenn alle Selbstsuche in der Zeit aufhört, dann kann man in der Welt sein, ohne von ihr zu sein.

AC: Was genau meinen Sie, wenn Sie sagen, dass der Zweck der Welt in ihrer Transzendenz liegt?

ET: Die Welt verheißt uns Erfüllung irgendwann im Laufe der Zeit und wir streben ständig nach dieser Erfüllung. Oft haben die Leute das Gefühl: „Ja, jetzt bin ich angekommen". Und dann stellen sie fest, dass sie nicht angekommen sind und fahren mit ihren Anstrengungen fort. In Ein Kurs in Wundernist das sehr schön ausgedrückt, wenn es heißt, dass der Leitsatz des Ego lautet: „Suche, aber finde nicht." Die Leute hoffen auf Erlösung in der Zukunft, aber die Zukunft tritt nie ein.
Letztendlich also entsteht Leid aus dem Nicht-Finden. Und das ist der Anfang eines Erwachens – wenn ei-nem die Erkenntnis dämmert: „Vielleicht ist das nicht der Weg. Vielleicht werde ich niemals dort hinkommen, wo ich denke hinkommen zu müssen; vielleicht liegt es ja gar nicht in der Zukunft." Nachdem man sich so lange in der Welt verirrt hat, kommt durch den Leidensdruck plötzlich die Erkenntnis, dass sich die Antworten nicht dort draußen in den weltlichen Leistungen und in der Zukunft finden werden.
Für viele Leute ist es wichtig, an diesen Punkt zu gelangen. Zu diesem Gefühl einer tiefen Krise zu kommen – wenn die Welt, so wie man sie gekannt hat, und das vertraute Selbst gefühl, das mit der Welt identifiziert ist, bedeutungslos werden. Das ist mir widerfahren. Ich war so nahe dran mich umzubringen, und dann ist etwas anderes geschehen – der Tod des Selbstgefühls, das durch Identifikationen lebte, durch die Identifikation mit meiner Geschichte, mit Dingen um mich herum, mit der Welt. In diesem Augenblick entstand so etwas wie ein Empfinden von tiefer und intensiver Stille und Lebendigkeit, von Sein. Später habe ich das „Präsenz" genannt. Über jede Beschreibung hinaus erkannte ich, dass es das ist, was ich bin. Aber diese Erkenntnis war kein verstandesmäßiger Prozess. Ich erkannte, dass ich selbst diese pulsierend lebendige, tiefe Stille bin.
Jahre später habe ich diese Stille „reines Bewusstsein" genannt, im Unterschied zu allem anderen, das konditioniertes Bewusstsein ist. Der menschliche Verstand ist das konditionierte Bewusstsein, das als Gedanke Form annimmt. Das konditionierte Bewusstsein ist die ganze Welt, die vom konditionierten Verstand erschaffen wird. Alles besteht aus unserem konditionierten Bewusstsein, sogar Dinge. Konditioniertes Bewusstsein wurde als Form geboren, und das wird dann zur Welt. Für die Menschen scheint es nötig zu sein, sich im Konditionierten zu verirren. Anscheinend ist es Teil ihres Weges, sich in der Welt zu verirren, sich im Verstand zu verirren, der konditioniertes Bewusstsein ist.
Schließlich entdeckt man auf Grund des Leids, das aus dem Verirrtsein entsteht, das Unkonditionierte als sich selbst. Und deshalb brauchen wir die Welt, um sie zu transzendieren. Ich bin also endlos dankbar dafür, dass ich mich verirrt habe.
Der Zweck der Welt besteht letztendlich darin, dass man sich darin verirren kann. Der Zweck der Welt ist, dass man leidet, dass man das Leid erzeugt, welches anscheinend Voraussetzung dafür ist, dass Erwachen geschehen kann. Und wenn das Erwachen dann geschieht, kommt gleichzeitig damit die Erkenntnis, dass Leiden jetzt überflüssig ist. Man ist zum Ende allen Leids gekommen, weil man die Welt transzendiert hat. Das ist der Platz, der frei von allem Leid ist.
Das scheint jedermanns Weg zu sein. Vielleicht ist es nicht jedermanns Weg in diesem Leben, aber es scheint ein universeller Weg zu sein. Ich glaube, dass jeder irgendwann einmal dort hinkommt, sogar ohne eine spirituelle Lehre oder einen spirituellen Lehrer. Aber das könnte lange dauern.

AC: Eine lange Zeit.

ET: Viel länger. Eine spirituelle Lehre ist dazu da, um Zeit zu sparen. Im Grunde ist die Botschaft der Lehre, dass man keine Zeit mehr braucht, kein Leid mehr braucht. Zu den Leuten, die mich aufsuchen, sage ich: „Du bist bereit das zu hören, weil du zuhörst. Es gibt da draußen noch immer Millionen von Leuten, die nicht zuhören. Sie brauchen immer noch Zeit. Aber ich spreche nicht mit ihnen. Du hörst, dass du keine Zeit mehr brauchst und nicht mehr leiden musst. Du hast innerhalb der Zeit gesucht und dabei nur mehr Leid gefunden." Und jetzt plötzlich zu hö-ren: „Du brauchst das nicht mehr", – das kann für manch einen schon der Augenblick der Transformation sein.
Also, die Schönheit der spirituellen Lehre liegt darin, dass sie einem ganze Lebenszeiten erspart, von ….

AC: . . . Unnötigem Leiden.

ET: Ja, deshalb ist es gut, wenn sich die Leute in der Welt verirren. Ich genieße es, nach New York oder Los Angeles zu reisen, da scheinen die Leute nämlich völlig verstrickt zu sein. Einmal habe ich in New York aus dem Fenster geschaut. Wir waren gerade mit einer Gruppe neben dem Empire State Building. Draußen waren die Leute in unglaublicher Eile, ja, sie rannten beinahe. Alle waren anscheinend in einem Zustand von intensiver Nervosität, Ängstlichkeit. Es ist Leid, aber man erkennt es nicht als Leid. Und ich dachte bei mir, wo rennen die alle hin? Selbstverständlich rennen alle der Zukunft entgegen. Sie müssen irgendwo hinkommen, wo nicht hier ist. Es ist ein bestimmter Zeitpunkt: nicht jetzt – dann. Sie laufen einem dann hinterher. Sie leiden, aber sie wissen es noch nicht einmal. Aber für mich war sogar einfach nur diese Beobachtung eine wahre Freu-de. Ich hatte nicht das Gefühl: „Oh, die sollten es besser wissen." Sie sind auf ihrem spirituellen Weg. In diesem Augenblick ist das ihr spiritueller Weg, und es klappt wunderbar.

AC: Oft wird das Wort Erleuchtung so interpretiert, dass es das Ende der Teilung des Selbst bedeutet und die gleichzeitige Entdeckung einer Perspektive, oder einer Art Wahrnehmung, die ganz ist, vollkommen, oder frei von Dualität. Manche, die diese Perspektive erfahren haben, behaupten, dass die größte Erkenntnis die ist, dass es keinen Unterschied zwischen der Welt und Gott oder dem Absoluten gibt, zwischen Samsara und Nirvana, zwischen dem Manifesten und Nicht-Manifesten. Und es gibt andere, die behaupten, dass die Welt tatsächlich gar nicht existiert – dass die Welt nur eine Illusion ist, völlig ohne Sinn, Bedeutung oder Wirklichkeit. Ist die Welt also Ihrer eigenen Erfahrung nach real? Ist die Welt irreal? Oder beides?

ET: Selbst wenn ich mit Leuten zusammen bin, oder in der Stadt spazieren gehe, gewöhnliche Dinge tue, nehme ich die Welt wie kleine Wellen an der Oberfläche des Seins wahr. Unterhalb der Welt der Sinneswahrnehmungen und der gedanklichen Aktivität liegt die Unermesslichkeit des Seins. Da ist unermesslicher Raum. Da sind unermessliche Stille und kleine Wellen an der Oberfläche, die nicht getrennt sind, genauso wie die Wellen und der Ozean nicht getrennt sind.
So wie ich es sehe, gibt es keine Trennung. Es gibt keine Trennung zwischen dem Sein und der manifesten Welt, zwischen dem Manifesten und dem Nicht-Manifesten. Aber das Nicht-Manifeste ist so viel unermesslicher, tiefer und größer als das, was in der manifesten Welt geschieht. Jede Erscheinung im Manifesten ist so kurzlebig und flüchtig, dass es aus dem Blickwinkel des Nicht-Manifesten, was zeitloses Sein oder Präsenz ist, tatsächlich so aussieht, als wäre alles, was im manifesten Bereich geschieht, nur ein Schattenspiel. Es scheint wie ein Dunst oder Nebel, in dem immer neue Formen entstehen und verschwinden, entstehen und verschwinden. Jemand, der also zutiefst im Nicht-Manifesten verwurzelt ist, könnte es durchaus als irreal bezeichnen. Ich nenne es nicht irreal, weil ich es nicht als getrennt von irgendetwas anderem sehe.

AC: Ist es also real?

ET: Das einzige, was real ist, ist das Sein selbst. Bewusstsein ist alles was es gibt, reines Bewusstsein.